Mit ihrem zweiten Album „The Silent Call“ schlagen Cryptosis ein neues Kapitel auf – musikalisch düsterer, atmosphärischer und gleichzeitig eingängiger als zuvor. Im Gespräch mit uns erklärt Gitarrist und Sänger Laurens Houvast, sowie Bassist Frank te Riet, warum sich die Band nicht mehr als Thrash-Formation versteht, wie Synthesizer ihren Sound verändert haben und weshalb Songstrukturen bei Cryptosis keine feste Regel mehr kennen.
TT: Ich würde gern mit dem beginnen, was für mich am offensichtlichsten ist: Wie kam es zu eurem Wandel vom technischen Thrash Metal hin zu dem, was man jetzt eher als Black Metal bezeichnen könnte? Wann war der Punkt erreicht, an dem ihr gemerkt habt: „Wir sind eigentlich keine Thrash-Metal-Band mehr“?
Laurens: Wir haben uns eigentlich nie wirklich als reine Thrash-Metal-Band gesehen. Ich glaube, ich kann sagen, dass wir immer schon viele Einflüsse hatten – das, was man heute auf dem neuen Album hört, war schon auf „Bionic Swarm“, unserem Debüt, da. Wir haben einfach bestimmte Elemente aufgegriffen und weiterentwickelt. Den technischen Aspekt haben wir dieses Mal ein Stück weit zurückgelassen und uns mehr auf Atmosphäre konzentriert. Die technische Seite ist noch da, aber wir setzen sie auf andere Weise ein. Es gibt zum Beispiel Songs, in denen Gitarre und Bass unterschiedliche Linien spielen, dazu kommen orchestrale Elemente, Synthesizer und Chöre. Also steckt da viel Technik drin – sie ist nur anders umgesetzt.
Frank: Es hat auch mit dem richtigen Zeitpunkt zu tun. Früher waren wir jung und wütend – da ist Thrash Metal ein gutes Ventil. Heute sind wir etwas älter – ich will nicht alt klingen, aber … Wir haben uns immer als experimentelle, progressive Band gesehen. Damals haben wir uns eben eher durch Thrash Metal ausgedrückt, heute ist es etwas anderes. Die Grundidee war immer, uns nicht in ein Genre einsperren zu lassen. Wir wollen einfach die Musik machen, die sich für uns richtig anfühlt.
TT: Was sich nicht oder kaum verändert hat, ist der Gesang. Ihr seid nicht auf Black-Metal-Kreischgesang oder eine extremere, vielseitigere Gesangsweise umgestiegen. War das Thema Gesang überhaupt zur Diskussion für diese Platte?
Laurens: Wir haben ein bisschen mit den Vocals experimentiert. Ich persönlich wollte aggressivere Gesangslinien aufnehmen als bei „Bionic Swarm“, und ich finde, das hat gut funktioniert. Ich habe vier verschiedene Vocal-Stile auf diesem Album verwendet. Viele Parts sind gedoppelt – also Hauptstimme, darunter ein Growl, darüber ein Schrei, zum Beispiel. Wir haben also viel ausprobiert. Insgesamt sollte der Gesang aggressiver, extremer sein als beim letzten Album. Die hohen Screams haben wir dieses Mal komplett weggelassen, weil ich das Gefühl hatte, dass sie nicht zur Musik passen.
TT: Ich dachte, die Songs stammen noch aus den Sessions der EP, aber das stimmt dann wohl nicht?
Laurens: Nein, überhaupt nicht. Die EP basierte auf „The Silent Call“, einem Song, den wir zwischen „Bionic Swarm“ und dem neuen Album fertiggestellt hatten. Als sich die Tour mit Cynic und Obscura anbot, wollten wir mit diesem Track zeigen, in welche Richtung es geht. Dazu kam noch „Master of Life“, ein Überbleibsel aus den Bionic-Sessions, das wir irgendwann noch verwenden wollten. Und wir hatten ein sehr starkes Konzert in Athen, bei dem wir ein paar Songs aufgenommen haben. Diese drei Stücke wurden zur EP – einfach als Ausblick auf die neue Richtung. Das Album selbst besteht aber komplett aus neuem Material.
TT: War „The Silent Call“ so etwas wie eine Blaupause für das Album oder eher nur ein Aspekt davon?
Laurens: Nur ein Aspekt. Wir hatten zu der Zeit auch „Ascending“ geschrieben – ein völlig anderer Song. Also hatten wir zwei gegensätzliche Stücke: eines mit klassischer Pop-Struktur, das andere ohne typisches Strophe-Refrain-Schema. Die beiden waren die ersten, die wir wirklich fertig hatten, und sie zeigten uns: Okay, da entwickelt sich gerade etwas.
Frank: „The Silent Call“ und „Ascending“ waren beide früh fertig und sehr unterschiedlich. Deshalb war „The Silent Call“ die logische Wahl für die EP.
TT: „Ascending“ ist momentan mein Lieblingssong des Albums. Ich mag es sehr, wenn Bands nicht der typischen Songstruktur folgen, sondern einen musikalischen Weg beschreiten, bei dem man am Ende nicht dort landet, wo man angefangen hat – oder eben doch, aber in veränderter Form. Wie schafft ihr es, einen solchen Song zu schreiben, der sich nicht einfach wie aneinandergereihte Teile anfühlt?
Frank: Lustig, dass du das sagst – „Ascending“ war ursprünglich unser Versuch, einen Song mit klassischer Pop-Struktur zu schreiben: Strophe, Refrain, Bridge. Wenn du genau hinhörst, ist das sogar vorhanden: Das Intro ist das Hauptriff, die beiden Strophen sind unterschiedlich, es gibt einen Pre-Chorus, den wir nur einmal einsetzen, und dann kommt eine ausgedehnte Bridge mit Gitarrensolo. Wir haben also versucht, kreativ mit der Struktur umzugehen, damit der Song nicht vorhersehbar wird.
Laurens: Der Song hat unzählige Überarbeitungen durchlaufen. Wir haben viel verändert – Synth-Linien neu geschrieben, Übergänge angepasst. Es war wahrscheinlich der erste Song, an dem wir gearbeitet haben, und der letzte, den wir komplett fertiggestellt haben. Auch wenn er einfach klingt, war er einer der schwierigsten.
TT: Das ergibt Sinn. Der Song hat einen roten Faden, und ich liebe es, wenn sich Elemente weiterentwickeln oder wiederkehren. Bei Opeth zum Beispiel ist es oft so, dass sie einfach einen Fade-Out machen und dann etwas Neues starten – irgendwann erkennt man das Muster. Bei euch – oder wie auf dem letzten Blood-Incantation-Album – werden Übergänge durch Melodien oder rhythmische Elemente verbunden. Das macht die Songs auch bei wiederholtem Hören spannend.
Frank: Ja, irgendwie reden wir in jedem Interview über Blood Incantation.
TT: Dann hören wir besser auf!
Frank: Nein, nein! (lacht) Ich finde es spannend, weil sie ebenfalls Grenzen ausloten. Wir sagen nicht, dass wir dasselbe machen, aber wir experimentieren beide. Und wir haben ähnliche Einflüsse – ich habe ein Interview mit ihnen gesehen, in dem sie über elektronische Musik gesprochen haben, über Plattensammeln… Vieles davon höre ich selbst. Aber obwohl die Quellen ähnlich sind, klingt unser Output komplett anders.
TT: Ein großer Unterschied: Sie schreiben sehr lange Songs – ihr nicht. Dabei würde ein Longtrack bei eurem Stil – Sci-Fi-Konzept, atmosphärischer Metal – eigentlich gut passen. Habt ihr euch bewusst dagegen entschieden?
Frank: Nein, wir schreiben einfach so lange, bis wir das Gefühl haben: Der Song ist fertig. Wir haben nie besonders lange Stücke geschrieben und es ist auch nicht unser Ziel. Ich mag solche Songs durchaus, aber es ist schwer, sie spannend zu halten. Wir schreiben lieber kompakte, auf den Punkt gebrachte Songs, die trotzdem interessant bleiben.
TT: Und diese Eingängigkeit fällt auf. Jeder Track hat ein prägnantes Element – ein Riff, eine Melodie –, das im Gedächtnis bleibt. Das ist selten in diesem Genre. Oft verschwimmt bei atmosphärischem Black Metal alles zu einer einzigen Stimmung. Bei euch kann man die Songs klar voneinander unterscheiden und freut sich schon beim nächsten Hören auf bestimmte Stellen.
Laurens: Genau das ist unsere Philosophie. Wir wollen, dass jeder Song eine eigene Identität hat. Wir hören selbst viele dieser Bands, aber da ist es oft schwer, sich Songtitel oder Melodien zu merken. Wir versuchen, Songs zu schreiben, die alle als Single funktionieren könnten.
TT: Auch das Interlude und das Outro?
Laurens: (lacht) Okay, vielleicht nicht die. Aber die anderen, ja.
TT: Ihr habt die Synths und Keyboards jetzt oft erwähnt – wer hat sie geschrieben? Musstet ihr dafür neue Dinge lernen?
Laurens: Die meisten habe ich geschrieben. Auf „Bionic Swarm“ waren sie auch schon da, aber weiter im Hintergrund gemixt. Dieses Mal stehen sie viel mehr im Vordergrund, was mich sehr freut. Ich höre viel Jean-Michel Jarre, klassische Musik, Filmmusik… Synths und Mellotron-Chöre sind für mich wie zusätzliche Farben – sie können ein Stück dunkler, nostalgischer oder epischer machen, je nach Einsatz. Zum Beispiel in „Ascending“, wo dieselbe Melodie einmal hoffnungsvoll, dann wieder melancholisch klingt – je nachdem, wie sie arrangiert ist.
TT: Wie setzt ihr das live um? Spielt jemand Keyboard oder kommt das alles vom Computer?
Laurens: Nein, kein Computer. Frank und ich spielen beide mit Stereo-Setups – zwei Amps für Gitarre, zwei für Bass. Frank splittet sein Basssignal: eine Seite geht zum normalen Bass-Amp, die andere durch ein Pedal, das Mellotron- und Orchestersounds emuliert. Zusammen mit den Stereo-Gitarren klingt das live richtig fett. Und wir schreiben unsere Songs auch mit dem Gedanken, dass wir sie live ohne Backing-Tracks spielen können.
TT: Aber ihr spielt mit Klick, oder?
Frank: Ja, unser Drummer spielt mit Klick, weil er das gut findet – aber nicht, weil wir das für die Sounds brauchen.
TT: Was sagst du dazu, wenn dein Bassist mit neuen Synth-Melodien ankommt und den Gitarren die Show stiehlt?
Laurens: (lacht) So sehe ich das nicht. Es ist eine tolle zusätzliche Textur. Wir haben viel experimentiert, vor allem weil wir nur zu dritt sind. Wenn ich ein Solo spiele, füllt der Bass den Raum – dafür haben wir viele Effekte ausprobiert. Irgendwann brachte Frank dieses Pedal mit, und das hat super gepasst. Es hat unseren Sound verändert, aber im positiven Sinne – selbst als wir noch zu 70–80 % Thrash Metal gespielt haben, hat es uns eine eigene Note gegeben.
TT: Kommen wir zum Sound des Albums. Ihr habt mit denselben Leuten wie bei „Bionic Swarm“ gearbeitet, aber das neue Album klingt viel dichter, voller. Habt ihr in der Produktion etwas verändert?
Laurens: Nicht direkt – es liegt vor allem an der Musik selbst. Die Songs sind etwas langsamer – nicht viel, aber genug, um mehr Raum zu schaffen. Die Synths und Chöre sind viel weiter vorn im Mix, und wir haben insgesamt mehr Platz gelassen. Weniger Noten, mehr Fokus auf Melodien. Das trägt viel zur epischen Wirkung bei.
TT: Und solche Details wie das Flüstern in „Ascending“ – sind die von Anfang an geplant oder entstehen die erst im Studio?
Laurens: Das kam erst während der Gesangsaufnahmen. Wir hatten das Gefühl, da fehlt noch etwas, etwas Textur. Also haben wir Flüstern ausprobiert, Effekte draufgelegt – es hat gepasst. Solche Sachen sind nicht immer geplant. In den Demos arbeiten wir mit Drumcomputer und phonetischem Gesang – also ohne echte Worte. Die Texte schreiben wir erst später. Im Studio versuchen wir dann, den Song auf die nächste Ebene zu bringen. Manchmal werfen wir auch Gesangsparts wieder raus, wenn sie nicht passen. Gesang ist ein sehr kreativer Prozess bei uns, der das Stück noch stark verändern kann.
Frank: Wir wussten aber schon durch „The Silent Call“ ungefähr, wie wir klingen wollten – aggressiver im Gesang. Auch beim Mix hatten wir da schon ein gutes Bild. Der Song enthält fast alle Elemente, die auch auf dem Album vorkommen – daher war er eine gute Referenz. Und die neue Version auf dem Album klingt sogar noch intensiver als auf der EP.
TT: Letzte Frage: Ihr habt schon recht viel getourt – nicht wie Sabaton, aber doch ordentlich. Was ist aktuell das Ziel für Cryptosis? Ihr seid keine Teenager mehr, die vom Rockstar-Leben träumen, aber ihr seid ambitioniert, was Touren und Musik betrifft.
Frank: Musik ist für uns alle 100 % Leidenschaft. Es ist das Einzige, was wir wirklich machen wollen. Wenn sich eine Gelegenheit bietet, nehmen wir sie wahr. Wir wollen touren, unsere Musik promoten, neue Fans erreichen.
(Manuel)
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