Mit ihrem neuen Album zeigen die Ostfriesen NAILED TO OBSCURITY eine neue Facette: mehrstimmige Gesänge und ein Songwriting, das bewusst gewachsene Erfahrungen widerspiegelt. Im Interview (geführt aus einem Wohnmobil in Rumänien) spricht Gitarrist und mittlerweile auch Produzent Jan-Ole Lamberti offen über die intensive Arbeit im Studio, die Entwicklung von Sänger Raimund Ennenga, den Einfluss von Sepultura – und warum die Band heute selbstbewusster denn je ihre Haltung nach außen trägt.
TT: Ich habe in einem Review geschrieben, dass euer neues Album für mich klingt, wie man sich die guten alten Opeth und Katatonia im Kopf vorstellt. Was sagst du dazu?
Jan-Ole Lamberti: Wir bemühen uns eigentlich immer, nicht so zu klingen wie andere Bands – und ich glaube, das gelingt uns meistens auch. Ein paar Querverweise bauen wir aber schon absichtlich ein, und manche Einflüsse lassen sich ohnehin nicht vermeiden. Opeth und Katatonia sind definitiv große Einflüsse für uns. Einer unserer größten Einflüsse war und ist aber zum Beispiel Sepultura. Das hört man bei uns nicht direkt, trotzdem gibt es Elemente, wo klar ist, warum wir das so sehen – auch jetzt wieder auf dem neuen Album.
Deshalb nehme ich deine Aussage auch als Kompliment. Vor allem, weil wir selbst irgendwann mal gesagt haben: Diese Art Bands fehlen uns inzwischen. Alte Opeth haben wir wirklich geliebt – zumindest Volker (Dieken, anderer Gitarrist; Anm. d. Verf.) und ich. Seit dem Stilwechsel ist die Band für mich persönlich eigentlich nicht mehr existent. Ich höre sie mir zwar noch gerne an, aber das, was ich daran mochte, ist für mich verschwunden.
Wir wollten das aber nicht kopieren und nicht eine von vielen Bands sein, die das versuchen. Uns war klar: Wenn wir die Leute ansprechen, die diese Musik genauso vermissen wie wir, ist das schon ein guter Ansatz. Katatonia haben das dann für mich noch eine Zeit lang weitergeführt – aber auch die bewegen sich inzwischen immer weiter davon weg.
Allein deswegen finde ich es ein Kompliment, wenn du uns in die Richtung einordnest. Gleichzeitig glaube ich, dass wir nie wirklich wie diese Bands klingen – und das soll auch so sein.
TT: Für mich war es eher das Gefühl, das euer Album vermittelt. Auch wenn Opeth inzwischen wieder Growls eingebaut haben – es klingt für mich überhaupt nicht nach dem Feeling von „Blackwater Park“ oder „Ghost Reveries“.
Jan-Ole Lamberti: Genau. Und es geht gar nicht nur um die Growls. Nimm „Damnation“ – das Album ist komplett clean und ruhig, hat aber trotzdem viel mehr von diesem Feeling, das wir lieben, als die härtesten der neuen Opeth-Platten. Opeth bewegen sich inzwischen eher in so einen modernen Krautrock-/ Prog-Bereich. Das funktioniert für mich nicht, und auch für uns als Band nicht – wir kommen einfach nicht aus dieser Ecke. Alte Progrock-Sachen hören wir selbst gar nicht, deswegen fehlt uns da auch der Zugang. Bei uns hört das bei Leprous auf. Wenn Opeth also versuchen, wie Camel zu klingen, holt uns das nicht ab.
TT: Da geht’s mir ähnlich – könntest mir irgendwas vorspielen und sagen, das ist Camel, und ich könnte dir nicht widersprechen.
Jan-Ole Lamberti: (lacht) Ja, ich kenne auch nur ein paar Sachen. Klar gibt es Alben, die wohl die Vorlage für das sind, was Opeth heute machen. Aber nur, weil sie das jetzt machen, muss ich das nicht automatisch gut finden. Bei mir hat’s jedenfalls nicht gezündet.
TT: Kommen wir mal zum Gesang. Die größte Neuerung auf eurem aktuellen Album ist ja, dass Raimund deutlich mehr singt als früher. Klar, es gab vorher schon vereinzelt Cleangesang – auf „Tears of the Eyeless“ oder bei Burial Vault –, aber so präsent wie jetzt war das noch nie. War euch nach „Black Frost“ schon klar, dass ihr in diese Richtung gehen wollt?
Jan-Ole Lamberti: Ja, das war von Anfang an klar. Wir wollten ein dynamischeres, vielseitigeres Album machen. Dabei geht es nicht darum, die Growls abzuwerten – im Gegenteil. Ich finde, das ist eine der ausdrucksstärksten Gesangsarten, und Raimund ist darin unfassbar stark. In Irland meinte mal ein Tontechniker, er klingt wie Mikael Åkerfeldt auf Steroiden – und genau so empfinde ich das auch.
Aber Growls haben Grenzen: Sie sind extrem, aber melodisch eben sehr eindimensional. Wir sind als Band immer schon melodisch gewesen, und oft war es sinnvoller, wenn der Gesang die Melodien und Harmonien übernimmt, statt dass wir alles mit Growls und gleichzeitig noch Leadgitarren zubauen. Das war eine bewusste Entscheidung – auch um Dynamik zu schaffen. Wenn Growls nach einer ruhigen Passage einsetzen, wirken sie viel brutaler.
Außerdem hatten wir durch die Pandemie viel mehr Zeit, Cleangesang wirklich auszuarbeiten. Vorher sind wir oft ins Studio gegangen und hatten die Parts nicht fertig, in der Hoffnung, das ergibt sich schon. Dieses Mal haben wir die Songs komplett ausgearbeitet, bevor wir ins Studio sind. Das hat enorm geholfen.
TT: Rückblickend – hättet ihr bei „Black Frost“ schon mutiger in die Richtung gehen wollen?
Jan-Ole Lamberti: Eigentlich nicht. Wir waren damals zufrieden, und „Black Frost“ war genau richtig für die Situation. Wir mussten schnell ein Album fertig haben, weil wir eine Tour mit Amorphis zugesagt hatten. Da blieb kaum Raum für Experimente. Jetzt mit der Pandemie hatten wir diese Zeit, viel kreativer zu werden. Das war ein völlig anderer Prozess.
TT: Auf dem neuen Album gibt es neben den Vocals und Leads auch viele zusätzliche Layer – Synths, Flächen, düstere Sounds. Auf den früheren Platten war das viel subtiler. Wie kam es dazu?
Jan-Ole Lamberti: Ganz ehrlich, das war nicht wirklich geplant. Solche Flächen hatten wir immer schon, oft mit Gitarren und Effekten erzeugt. Dieses Mal haben wir gesagt: Warum sollen wir uns limitieren? Gerade diese dystopischen, soundtrackartigen Sounds haben die Atmosphäre enorm bereichert. Wir haben sie ausprobiert, und es fühlte sich einfach richtig an. Rausnehmen hätte die Songs ärmer gemacht.
TT: Bedeutet das, ihr müsst jetzt live mit Klick spielen?
Jan-Ole Lamberti: Machen wir schon lange. Anfangs, weil wir sonst zu nervös und zu schnell gespielt haben. Später haben wir auch Licht und Samples ans Klick gebunden. Aber nur der Drummer hört den Klick, wir orientieren uns an ihm. Sonst wird’s zu mechanisch und das Feeling geht verloren.
TT: Wie lief die Zusammenarbeit mit Raimund beim Gesang? Wer hat was beigesteuert?
Jan-Ole Lamberti: Im Grunde war es Teamwork. Ich hatte die Produzentenrolle, Raimund war viel hier, und wir haben Ideen gemeinsam entwickelt. Viele harmonische Linien kamen von mir, aber auch Volker war beteiligt. Texte schreibt oft Raimund, manchmal arbeiten wir noch dran, formulieren etwas um. Es gibt keinen festen Ablauf – wir helfen uns gegenseitig, bis alle zufrieden sind.
Ein gutes Beispiel ist „Generation of Void“. Wir hatten eine Gesangsmelodie, die wir eigentlich richtig cool fanden, aber irgendwas fehlte. Also hab ich irgendwann gesagt: „Wir lassen die Gesangslinie so, du gehst nach Hause, und morgen setze ich mich hin, lösche alles, was an Musik dahinter ist, und schreibe den Refrain neu – Gitarre und Schlagzeug direkt zur Gesangslinie.“ Und das war nach wochenlangem Probieren der Schlüssel.
Deshalb klingt der Chorus auch so speziell, glaube ich. Er wirkt sehr losgelöst vom Rest, fast reingehauen, aber genau das hat gefehlt. Vorher hatten wir ein ganz anderes Instrumental darunter, das aber nicht richtig gezündet hat. Also haben wir den Song an der Stelle komplett neu um die Gesangslinie herumgebaut.
So mussten wir uns Stück für Stück rantasten – und das mussten wir auch erst lernen. Ich hoffe, beim nächsten Album geht das schneller. Aber die Erkenntnisse, die wir in diesem ersten Jahr gesammelt haben, sind enorm wertvoll.
TT: Gleichzeitig habt ihr auch den Cleangesang diesmal öfter gedoppelt oder mehrstimmig gemacht. Auf dem Vorgängeralbum gab’s ja nur einen Track, der in die Richtung ging – und der wirkte noch — no offense — recht flach. Kam die Entscheidung von euch oder vom Produzenten?
Jan-Ole Lamberti: Das war unsere Entscheidung. Du hast es schon richtig gesagt: Wenn es nur eine einzelne Spur ist, wirkt der Gesang schnell flach, gerade bei dieser Art Gesang. Der ist ja sehr zurückgenommen, luftig, wenig gepresst – keine klassische Rockröhre. Eher wie ein Instrument, fast wie ein Keyboard, das sich einfügt, statt sich durchzusägen.
Um da Tiefe reinzubringen und die Stimmung einzufangen, sind Harmonien super hilfreich. Das haben wir diesmal viel bewusster eingesetzt. Die Produzenten hatten auf das Songwriting selbst so gut wie keinen Einfluss. Victor (Bullok aka. V. Santura, Produzent; Anm. d. Verf.), mit dem wir auch die beiden Alben davor aufgenommen haben, gibt Feedback und segnet Dinge ab, manchmal bringt er auch eine Idee ein – aber das war bei „Black Frost“ viel mehr. Auf dem neuen Album eigentlich kaum der Rede wert.
TT: Dann lass uns über die Texte reden. Aus meiner Sicht hat das neue Album eine deutlich sozialkritischere Note als die früheren. War das eine bewusste Entscheidung von euch, oder kam das von Raimund?
Jan-Ole Lamberti: Zu den einzelnen Texten kann ich nicht viel sagen – und das ist auch Absicht. Raimund will, dass die Leute sich ihr eigenes Bild machen können. Die Texte sind super persönlich, so sehr, dass selbst wir oft nicht genau wissen, was er meint. Wir lesen sie, hören sie, interpretieren sie – genauso wie jeder andere auch.
Sozialkritische Elemente gab’s eigentlich schon immer, weil das einfach Teil von Raimund ist. Aber diesmal hat die Zeit das verstärkt. 2019 schien noch alles fast zu gut – und dann ging’s plötzlich bergab. Pandemie, politische Krisen, all das hat natürlich auch Einfluss gehabt, während wir das Album geschrieben haben.
Als Band haben wir außerdem gemerkt, dass wir unsere politische Haltung stärker nach außen tragen wollen. Früher dachten wir: Musik ist Musik, lass das mal für sich stehen. Heute sehen wir das anders. Wir sind politisch schon immer klar gewesen, aber inzwischen wollen wir das auch deutlicher zeigen.
Das spiegelt sich auch im Alltag wider: Auf Tour lebt mehr als die Hälfte der Band und Crew vegan, viele auch privat. Alkohol spielt kaum noch eine Rolle. Ich trage politische Statements inzwischen sogar wortwörtlich auf dem Kopf (Zeigt auf seine „FCK AFD“ Kappe). Das alles hat dazu geführt, dass wir im Schreibprozess gesagt haben: Diese Ebene soll auf dem Album stärker sichtbar sein.
Raimund bleibt in seinen Texten eher bei sehr persönlichen Themen, aber wir anderen haben stark darauf gepocht, dass die gesellschaftlich-politische Seite gleichwertig herausgestellt wird. Deswegen auch der Albumtitel.
TT: (lacht) Das mit vegan kenne ich – ich trinke keinen Alkohol und esse kein Fleisch, und in Rumänien wirst du dann gerne mal mit Schnaps und Speck empfangen.
Jan-Ole Lamberti: (lacht) Bei uns trinkt mittlerweile auch fast niemand mehr Alkohol, auch wenn das nicht strikt ist. Ich hab nie gesagt, dass ich nie wieder trinke – aber irgendwann hat es sich einfach so ergeben, dass ich es nicht mehr mache. Früher mochte ich nicht mal Wein, inzwischen finde ich einen guten Rotwein zwar lecker – aber trinken tu ich ihn trotzdem kaum noch.
TT: Kommen wir noch auf etwas anderes: Du und Raimund arbeitet ja auch in der Musikindustrie. Hat das Einfluss auf euch als Band?
Jan-Ole Lamberti: Schwer zu sagen. Ich hab ja nie etwas anderes gemacht – also keinen „richtigen Erwachsenenjob“. Der größte Unterschied ist vielleicht, dass wir wissen, wie viel Fleiß und Beständigkeit dazugehört. Dass man mehr machen muss, als nur im Proberaum zu sitzen und zu hoffen, entdeckt zu werden. Dieses Bild aus Filmen – einer hört dich zufällig und plötzlich bist du groß – das gibt’s so nicht.
Wir hatten relativ früh ein klares Bild davon, wie man vorankommt, und haben das durchgezogen. Am Ende läuft es beim Label auch nicht anders, als wir es vorher selbst gemacht haben. Also so gesehen ist es kein riesiger Vorteil. Klar, wenn man viel Geld hätte und alles selbst machen könnte, wäre das ein Unterschied. Aber so: nicht wirklich.
TT: Zum Abschluss noch: Du hast am Anfang gesagt, Sepultura sei ein großer Einfluss. Wie genau zeigt sich das in eurer Musik?
Jan-Ole Lamberti: Ohne Sepultura gäbe es die Band gar nicht. Für Volker und mich war das neben Korn die prägendste Band in unserer Jugend. Wir wollten sein wie Andreas Kisser – haben die gleichen Klamotten getragen, uns Gitarren gekauft, die so aussehen wie seine, und versucht, damit klarzukommen. Das war wirklich der Grundstein.
Aber auch musikalisch war Sepultura wichtig: Sie waren extrem eigenständig, haben Dinge gemacht, die sonst keiner gemacht hat. Das hat uns stark beeinflusst. Konkret hört man das zum Beispiel im Anfang von „Overcast“ – diese noisige Gitarre – oder in meinem Solo in „Generation of Void“, das ein bisschen Chaos-Elemente enthält. Das ist direkt von Sachen wie „Chaos A.D.“ inspiriert.
Für uns bezieht sich das eher auf die alten Alben bis Roots. Aber Raimund ist tatsächlich ein großer Fan auch der neueren Sepultura und hat da viel gehört. Für ihn waren die neueren Sachen, gerade textlich, auch ein Einfluss. Da bin ich mir ziemlich sicher.
TT: Super, dann haben wir das am Ende auch noch untergebracht. Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast!
(Manuel)
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