Joe Thomas - Brazilian Psycho
(btb Verlag)
- einfallsreicher und anspruchsvoller Polit-Thriller mit hartnäckigen Durchhängern -
Es herrscht Gewalt in den Straßen São Paulos. Miss- und Vetternwirtschaft, Kriminalität, Betrug und Korruption stehen an der Tagesordnung. Nicht selten münden diese in völligen Katastrophen für die, zumeist verarmte Bevölkerung. Der philosophische Ansatz des Habitus, den der britische Autor Joe Thomas in seinem einfallsreichen und anspruchsvollen Polit-Thriller "Brazilian Psycho" an den Tag legt, ist genauso rau und lebendig, wie die Schauplätze, an denen sie sich zutragen. Politisch unkorrekt, obszön, vulgär, skrupellos und verdammt brutal. Auf Befindlichkeiten nimmt Thomas keine Rücksicht. Das machen die Gangs auf der Straße auch nicht. Also beschönigt er auch nichts. In der größten Stadt Brasiliens hält sich niemand an das Gesetz. Jeder wirtschaftet auf seine Weise. Zumeist in die eigene Tasche. Die Grenzen der organisierten Kriminalität sind nun mal fließend. Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist es hingegen nicht. In seinem 640 Seiten umfassenden, weltoffenen und kommunikativen Polit-Thriller geht der Brite ebenso auf den politischen und wirtschaftlichen Lauf der Dinge ein, wie auch auf das unweigerliche Ineinandergreifen vom Verteilen (zumeist) finanzieller Zuwendungen und dem Ermöglichen von Dingen des alltäglichen Lebens. Er stützt sich auf kurze, lässige, gleichwohl prägnante und aussagekräftige Thesen, die darauf hindeuten, dass ihr Repräsentant bereits so einiges im Leben gesehen hat. Joe Thomas, der selbst zehn Jahre in São Paulo gelebt hat, beleuchtet die politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Kausalitäten insbesondere in der Zeitspanne von 2003 bis 2019 und zeigt die Gegensätzlichkeit São Paulos als Milieustudie. Die Favelas, mit ihren eng aneinander gebauten Bruchbuden am Hang des Morro da Providência und demgegenüber Bezirke, wie das grüne Jardins-Viertel mit seinen ruhigen Straßen, Nobel-Restaurants, luxuriösen Apartment-Hochhäusern, mondänen Hotels, reichen Paaren, schnellen Autos und exklusiven Klamottenläden mit Tausend-Dollar-Jeans. Neben schicken Bars und "padarias" (Bäckereien), Wop-Kantinen und Pizzerien wimmelt es in São Paulo nur so vor Straßennutten, Stripclubs, Strichern, Dealern, Zuhältern, Künstlern, Aristokraten und den "noias", den paranoiden Süchtigen.
Januar 2003. Detective Mario Leme macht sich gemeinsam mit seinem guten Freund und Partner Ricardo Lisboa auf ins Nobelviertel Jardim Paulistano, um zu klären, wer Paddy Lockwood, den Direktor der British International School, in dessen Villa ermordet hat. Der Fall wird nicht aufgeklärt. Doch jemand muss den Kopf dafür hinhalten. Ein armer Schlucker aus den Favelas, dessen Familie für seinen fünf- oder sechsjährigen Stellvertreter-Knastaufenthalt einen Batzen Geld erhält, ist schnell bestimmt. Der Mord an dem Schulleiter ist Lemes erster Fall, der ihn auch Jahre später nicht zur Ruhe kommen lässt und für ihn zu einer Obsession gerät. Szenenwechsel. Miami Airport. "Big" Ray Marx fliegt nach São Paulo. Aber nicht unvorbereitet. Der ehemalige CIA-Agent, aktuelle Firmenteilhaber und freiberufliche Drahtzieher hat sich zuvor mit Startkapital eingedeckt. Das will er gewinnbringend investieren. Er soll für den Hedgefonds und die private Investmentbank Capital SP den Consultant spielen und die Entwicklung des Finanzmarktes unter der politischen Führung von Luiz Inácio Lula da Silva (35. und indes auch 39. Präsident der Föderativen Republik Brasilien) sondieren. In der Zwischenzeit trifft sich Anwältin Renata Sanchez, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Fernanda von Capital SP ein Rechtsberatungsbüro am Rande der Favela Paraisópolis eröffnen will, mit einem Makler. Sie wollen den Bewohnern der Favela bei den vielen Anträgen helfen, die ein besseres Leben für selbige bedeuten könnten. Beobachtet vom 13-jährigen Schüler Rafa, der sich als Aufpasser ein bisschen Geld verdient. Er notiert, auffällige Personen, die die Favelas betreten oder selbige verlassen.
Aufgrund der vielen Handlungsstränge weiß man nicht so recht, in welche Richtung es eigentlich gehen soll. Doch dann nimmt die gesellschaftspolitische Ode an das wichtigste Wirtschafts-, Finanz- und Kulturzentrum des Landes allmählich Gestalt an und die Geschehnisse beginnen sich zu überschneiden. Der komplexe, teil-fiktionale Polit-Thriller "Brazilian Psycho", der auf einem Fundament aus tatsächlichen Vorkommnissen errichtet wurde, ist schon harter Tobak. Trocken, schwarzhumorig und abgebrüht geht Joe Thomas auf die jeweiligen Charaktere ein, die man in ihrem täglichen Kampf im Sündenpfuhl São Paulos begleitet. Die meisten von ihnen ohne reelle Chance jemals aus diesem abartigen Teufelskreis aus Sex, Drogen und Gewalt auszubrechen. Man riecht den Dreck, den Staub, die Abgase, spürt die permanente Gefahr der willkürlichen Gewalt, die Schwüle, die flirrende Hitze, sieht die Massen an Menschen vor dem eigenen geistigen Auge durcheinander wuseln und bekommt in diesem erbarmungslosen Thriller eine Ahnung vom bitteren Elend auf den Straßen São Paulos. "Brazilian Psycho" ist phasenweise dermaßen fesselnd verfasst, dass man an Joe Thomas' Buchseiten klebt, wie ein Neugeborenes an den Brüsten seiner Mutter. Man sollte allerdings ein gewisses Interesse für Wirtschaft, Politik und kriminelle Machenschaften mitbringen, um mit dem explosiven Zündstoff aus dem Betondschungel klarzukommen. Thomas hechtet nämlich in Highspeedmanier durch die dramatischen Geschehnisse und die politischen Hintergründe Brasiliens, die ich in dieser Form nicht kannte. Durch die vielen verschiedenen Handlungsstränge und das üppige Personal wird man jedoch immer wieder aus dem Kontext gerissen. Zudem wird die Geschichte, gerade im letzten Drittel unnötigerweise in die Länge gezogen. Hier gestaltet es Joe Thomas einfach zu komplex, zu politisch, zu zerfahren und zu kompliziert. Auf Dauer wird der Schluss dermaßen zäh, dass ich das Buch am liebsten abgebrochen hätte. Warum der btb Verlag, im Falle des 1977 in Hackney geborenen Schriftstellers Joe Thomas das Feld von hinten aufgerollt hat, ist mir zusätzlich ein Rätsel. "Brazilian Psycho" ist nämlich der vierte Band des "São Paulo Quartet" (bestehend aus Paradise City, Gringa, Playboy und Brazilian Psycho). Er kann jedoch als Standalone gelesen werden, was diesen Fauxpas wieder etwas in den Hintergrund rückt.
(Janko)
Joe Thomas - Brazilian Psycho
btb Verlag
Polit-Thriller
ISBN: 978-3-442-77386-2
640 Seiten
Paperback, Klappenbroschur
Originaltitel: Brazilian Psycho
Aus dem Englischen von Alexander Wagner
Erscheinungstermin: 14.02.2024
EUR 18,00 Euro [DE] inkl. MwSt.
Weitere Formate:
ISBN eBook (epub): 978-3-641-29817-3
Erscheinungstermin: 14.02.2024
EUR 12,99 Euro [DE] inkl. MwSt.
"Brazilian Psycho" beim btb Verlag: https://www.penguinrandomhouse.de/Paperback/Brazilian-Psycho/Joe-Thomas/btb/e618015.rhd
Leseprobe: https://www.penguin.de/leseprobe/Brazilian-Psycho/leseprobe_9783442773862.pdf