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Kind 44 von Tom Rob SmithKind 44 von Tom Rob Smith
 

Russland Anfang der 1950er Jahre. Genosse Stalin ist nach wie vor an der Macht und Russland ein kalter, brutaler Überwachungsstaat, in jeglicher Hinsicht im festen Würgegriff von Väterchen Frost. Leo Demidov, seines Zeichens Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes MGB in Moskau, wird von einem Kollegen denunziert und fällt daraufhin in Ungnade. Wie bereits von Abraham im Alten Testament, verlangt man von Leo ein enorm großes Opfer, um seine Loyalität zu prüfen, was ihn in einen argen Gewissenskonflikt drängt. Er soll seine eigene Frau denunzieren, was für selbige den sicheren Tod bedeuten würde. Leo wird in diese Intrige gegen sich und seine Frau Raisa derart hineingesogen, dass es für sie beide nahezu aussichtslos erscheint, aus eigener Kraft aus dieser Staatsaffäre heil und vor allem lebend herauszukommen. Soll Leo seine Frau über die Klippe springen lassen, um anderen Leuten in seinem Umfeld, wie auch sich selbst das Leben zu retten? Sein Gewissen plagt ihn. Er ist hin und her gerissen. Der Druck, der auf ihm lastet wird immer größer. Da Leo jedoch nicht einknickt, wird er auf unterstes Niveau degradiert und zur Miliz ins 1.000 km entfernte Wualsk versetzt. Obschon ihre Beziehung auf einem nur allzu wackligen Lügengebäude fußt, ist es auch für Raisa, die als Lehrerin arbeitet, die einzig verbliebene Chance mit ihm zu gehen, um weiterhin am Leben partizipieren zu dürfen. Vor Ort in Wualsk versucht Leo, ohne einen entsprechenden Auftrag erhalten zu haben, sogar gegen den ausdrücklichen Willen seiner Vorgesetzten, einem Kinder ausweidenden Serienkiller auf die Schliche zu kommen. Hierbei deckt er Zusammenhänge mehrerer örtlich recht weit voneinander entfernter, bestialischer Verbrechen auf. Mit seinen Ermittlungen auf eigene Faust begibt er sich auf verdammt dünnes Eis und bringt damit nicht nur sich, sondern auch Raisa wieder und wieder in Gefahr. Leo, der zu Anfang als unsympathischer Protagonist dargestellt wird, erkämpft sich durch die Veränderungen, die er im Laufe der Geschichte durchmacht nicht nur beim Leser, sondern auch bei Raisa immer mehr Sympathiepunkte. Nesterow, Leos neuer Vorgesetzter bei der Miliz in Wualsk wird jedoch immer misstrauischer, beginnt ihm schließlich Fallen zu stellen und seine Ermittlungen zu unterwandern. Die Untersuchungen zu den Vorfällen fordern immer mehr zu Unrecht Inhaftierte und auch Tote. Leo lädt immer mehr Schuld auf seine Schultern und ist alsbald abermals am Ende. An einer wahrhaftigen Investigation und Aufklärung der Fälle scheint beim Staat keiner so recht interessiert zu sein, würde man sich dadurch doch eventuell die Blöße geben, Unschuldige inhaftiert, gefoltert oder gar getötet zu haben. Erst, als sich Nesterow allmählich von Leos Theorien überzeugen lässt, nehmen die Ermittlungen Fahrt auf. Tom Rob Smith beschreibt auf 508 Seiten die gezwungene Zurückhaltung der einzelnen Protagonisten. Unter dem Druck der Staatsmacht musste man sich so einiges gefallen lassen, um keinen Repressionen ausgesetzt zu werden. Hinzu kamen die schlechte oder kaum vorhandene Infrastruktur, die Knappheit an Lebensmitteln, die Kälte, die Korruption, die Überwachung, die ständige Gefahr denunziert zu werden. Gemäß dem damaligen Motto: „Jeder ist verdächtig und zuerst einmal als schuldig zu betrachten, bis die Unschuld bewiesen ist.“ Widersprechen oder anders sein konnte den unmittelbaren Tod bedeuten. Durch das Verbreiten von Angst erreichte man Disziplin. Ein stumpfes, graues Gefühl voller Kälte macht sich beim Leser breit, wenn er immer mal wieder auf die damaligen Zustände gestoßen wird. Das harte Durchgreifen, die abartigen Foltermethoden, die Gehirnwäsche, das Ausnutzen der staatlichen Position - wenn man sich denn in solch einer glücklichen und privilegierten Lage befand -, Macht und Ohnmacht, all dies in einem System voller Gewalt und absichtlich verbreiteter Angst. Kritik am Staat bedeutete den sicheren Tod. Das Gebaren des russischen Staates zu dieser Zeit war nicht viel mehr und auch nicht viel weniger, als ein Pendant zum Nationalsozialismus. Homosexualität wurde als Krankheit angesehen, als Verbrechen geahndet und in der Regel mit hohen Gefängnisstrafen oder gar dem Tode bestraft. Jeder konnte auf solch einer Todesliste landen. Private Feinde der Milizbeamten wurden diffamiert. Pure Willkür herrschte vor. Ähnlich der Hexenverbrennung vor vierhundert Jahren. Stalins Tod am 05.03.1953 wurde daher auch von den meisten als Befreiung empfunden. An den damaligen Zuständen hat sich in den letzten Jahrzehnten offensichtlich aber leider noch nicht so enorm viel geändert. Tom Rob Smith zeichnet ein trostloses Bild der damaligen Gesellschaft, eingebettet in ein unnachgiebiges und grausames System, das auch vor den schlimmsten Gräueltaten nicht Halt machte. Wenn es die Politik so entschied, waren Menschenleben keinen Pfifferling mehr wert. Mehrere verschiedene Handlungsstränge werden so hintereinander arrangiert, dass es den Anschein macht, sie hätten offensichtlich keinen Bezug zueinander. Der Autor kann gut beschreiben. Es gelingt ihm eine permanente, unterschwellige Spannung aufzubauen und die verschiedenen Handlungsstränge mit Finesse nach und nach miteinander zu verknüpfen. Auf das Beschreiben des Lokalkolorits hätte er jedoch ein wenig mehr Wert legen können. Beim Lesen fiel mir recht bald auf, dass die Fälle auffällig viele Parallelen zum Ripper von Rostow aufwiesen (nicht nur Namens- und Ortsgleichheiten, auch die Durchführung der Taten an sich, sowie die ungefähre Anzahl der Opfer passte mit 53 in etwa überein). Tom Rob Smiths fiktive Geschichte fand nur ca. dreißig Jahre zuvor statt. Wenn man dann aber die Literaturhinweise auf Wikipedia zum Eintrag zum Ripper von Rostow liest, wird man auch hier auf Autor und Buch stoßen. Die ganze Geschichte hält immer wieder stark umgesetzte Ideen und drastische Wendungen bereit, die den Hauptprotagonisten in ständiger Lebensgefahr halten. Die Beschreibungen sind teilweise recht brutal, kalt, hilflos, aussichtslos und pervers. Trotz einiger, allerdings nicht weiter ins Gewicht fallenden Ungereimtheiten, handelt es sich bei "Kind 44" um ein erschreckendes, wenn auch zum Teil fiktives Abbild der damaligen Zustände in der Sowjetunion. 

 
(Janko)
 

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